Die Reise zum Champions-League-Finale in Wembley war eine mit dramatischen Wendungen, und das Ergebnis am Ende Nebensache.

Eine Reportage von Falk-Stéphane Dezort

Als am 7. Mai um kurz vor 23 Uhr im Pariser Prinzenpark der Schlusspfiff im Champions-League-Halbfinal-Rückspiel ertönte und Borussia Dortmund den Einzug ins Endspiel von Wembley perfekt gemacht hatte, war klar: Als gebürtiger Westfale, der nur 50 Kilometer vom Westfalenstadion entfernt geboren und aufgewachsen ist, muss ich in London dabei sein. Wie schon 2013, im Finale am selben Ort gegen Bayern München. Egal, ob mit oder ohne Ticket. Noch im selben Moment – während ich als Pressevertreter auf der Tribüne saß, auf dem Rasen die gelbe Siegesparty stieg und sich Marco Reus und Co. feiern ließen – buchte ich, vollgestopft mit Endorphinen und mit zittrigen Händen, eine Busreise für den Spieltag. Eine Anreise durch die Luft oder schon am Freitag war aufgrund von Flugangst und anderen Terminen nicht möglich. Dass sich die Busfahrt zu einem emotionalen Höllenritt entwickeln sollte, konnten weder ich noch mein Bruder als Reisebegleiter zu diesem Zeitpunkt erahnen.

Schlaflose Nächte

Zunächst sorgte die Ticketfrage für mehrere schlaflose Nächte. Als Mitglieder haben wir uns natürlich über den BVB um die begehrten Eintrittskarten bemüht, doch in der Verlosung gingen wir leer aus. Aber der Satz „Sie stehen auf der Warteliste“ ließ einen Funken Hoffnung weiter glimmen. Zudem wurde jede noch so minimale Chance ergriffen, über eine der zahlreichen Verlosungen von Sponsoren ein Ticket zu ergattern. Selbst der Freundeskreis und Arbeitskollegen wurden zum Mitmachen animiert. Manchmal kann ich ganz schön nerven.

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Schon bei der Abfahrt in Köln hatte der Bus eine Stunde Verspätung. Foto: Dezort

Als der BVB dann via E-Mail über einen Wartelisten-Vorverkauf informierte, schnellte der Puls in die Höhe – die Nacht vor dem Verkauf war mit wenig Schlaf gesegnet. Pünktlich um 10 Uhr waren wir mit mehreren Laptops und Handys eingeloggt, die Tickets lagen im Warenkorb. Und dann: Seitenabsturz, zurück in die Warteschlange, alle Tickets weg. „Das war’s“, war der erste Gedanke. Auch die letzte Chance war dahin? Denkste! Wie durch ein Wunder kam es fünf Tage später noch einmal zu einem Wartelisten-Vorverkauf, und als um 10.05 Uhr der laute Jubelschrei durch die Redaktion schallte, wusste jeder in dem Gebäude: Es geht nach London, ins wunderschöne Wembley-Stadion. Die Vorfreude war riesig, bestens gelaunt konnte der Arbeitstag weitergehen.

Mit dem Flixbus nach LonDOn

Dann war der große Tag gekommen. Um 5.15 Uhr sollte es am 1. Juni am Kölner Flughafen losgehen, doch der Bus hatte schon – ohne Angabe von Gründen und auch wenig verständlich, da es der Startpunkt des Busses war – eine Stunde Verspätung. Diese sollte aber bis zur Überfahrt mit der Fähre in Calais locker wieder aufgeholt werden. Ganz genau: sollte. Als dann kurz vor dem Haltepunkt Lille aufgrund eines Staus eine weitere Stunde Verspätung hinzukam, war klar: Die Fähre um 12.50 Uhr werden wir nicht mehr erreichen. Und als wir das Ausmaß des Verkehrs an der Grenzkontrolle sahen – es waren nur sechs von 15 Schleusen geöffnet – ahnten wir: Es wird eng. Auch die Fähre um 14.30 Uhr rückte in weite Ferne.

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Am Hafen schwanden die Hoffnungen auf das CL-Finale. Foto: Dezort

Mehr als eine Stunde dauerte das ganze Prozedere an der Einfahrt zum Hafenbereich und durch die französische und britische Grenzkontrolle – bis wir um 15.30 Uhr endlich am Dock ankamen, war das Schiff selbstverständlich schon weg. Aber aller guten Dinge sind bekanntlich drei, so zumindest unsere Hoffnung. Mit der Fähre um 16.10 Uhr und einer Ankunft um 16.30 Uhr englischer Zeit in Dover würden wir es noch gerade rechtzeitig zum Anstoß schaffen. Doch der Busfahrer machte uns wenig Hoffnung. „Das nächste Schiff ist zu klein. Die werden uns nicht mitnehmen können.“ In mir und meinem Bruder zerbrach in diesem Moment eine Welt, der Traum vom Finale in Wembley, dem wichtigsten Spiel im europäischen Vereinsfußball, mit dem Herzensverein, er zerplatzte für uns in diesem Augenblick. Die ein oder andere Träne floss. Selbst unbeteiligte andere Reisende hatten Mitleid mit uns und schlugen uns aufmunternd auf die Schultern.

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Der Brüsseler BVB-Fan Zakaria Ben Moussa fand eine letzte Chance – einen Zug. Foto: Dezort

Dem Hotelier sei Dank

Aber Zakaria Ben Moussa, ein Dortmund-Fan aus Brüssel, der ebenfalls ein Finalticket hatte und unbedingt nach Wembley wollte, wollte die Hoffnung nicht aufgeben und suchte nach letzten Alternativen. Und schließlich tat sich eine auf. Mit einem Schnellzug ab Dover könnten wir es noch zumindest zu Beginn der zweiten Halbzeit schaffen, der Busfahrer warf uns in Dover direkt nach dem Hafen raus – zeitgleich lehnte aber Uber unsere Fahrt von dort zum Bahnhof ab: „Keine Fahrer in der Nähe.“

Mist, und was jetzt? Als Tramper in die Metropole? Nein, die Autos brausten nur so an uns vorbei. Unseren Retter entdeckten wir aber nur 100 Meter weiter: vor einem Hotel standen drei Leute und unterhielten sich. Es stellte sich heraus, dass einer von ihnen der Hotelier war. Scheinbar sah er in unseren Gesichtern die pure Verzweiflung und die Angst, dass sich auch die letzte Chance auf einen Stadionbesuch in Wohlgefallen auflösen könnte. „Okay, hop in!“ (Okay, steigt ein). Dass das Auto nur einen richtigen Sitz hatte, und ich auf einer Mischung aus Abflussrohren, Metallgittern und Plastikmüll in Embryonal-Stellung die fünf Minuten zum Bahnhof verbrachte, war uns in diesem Augenblick völlig egal. Dank des Hoteliers schafften wir es tatsächlich noch zum Zug. Und auch der Umstieg in Ashford International klappte einwandfrei. Leider konnten wir uns nicht richtig bedanken.

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Zu Beginn der zweiten Halbzeit war ich im Stadion, mein Bruder kam in der 76. Minute. Foto: Dezort

Wenn das Adrenalin kickt & Londoner Polizei

In London angekommen, mussten wir noch mit der U-Bahn raus nach Wembley, beim Umstieg an der St. Pancras-Station zum Londoner Underground konnten wir unsere Sprinter-Qualitäten so richtig unter Beweis stellen. Aber unser Ziel rückte immer näher, das beflügelte, und das Adrenalin kickte – zumindest ergebnistechnisch schienen wir auch nichts zu verpassen. Der Blick auf den Liveticker verriet: 0:0 – der BVB mit den besseren Chancen.

Als wir schließlich am Wembley Park die U-Bahn-Station verließen und sich das imposante Stadion vor unseren Augen zeigte, konnten wir unser Glück kaum fassen. Nur noch einige Meter trennten uns von der Erfüllung unseres Traums. Doch dieser Trip hielt eine weitere Geschichte parat: Während ich zur 46. Minute nassgeschwitzt den BVB-Fanblock im Oberrang erreichte, erreichte mich auch die Whatsapp-Nachricht meines Bruders: „Die Polizei lässt mich nicht durch – wurde weggeschubst und alles.“ Vor dem Stadion versammelten sich einige hundert Madrid-Fans, die die Konfrontation mit den englischen Polizisten suchten. Schließlich hatten sie aber doch ein Einsehen und ließen meinen Bruder passieren. „Ich bin gleich da!“ Das war die beste Nachricht des Tages.

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Noch weit nach Abpfiff saßen wir im Stadion. Leider hat es mit dem Pott nicht geklappt. Foto: Dezort

Wortlos und mit Tränen (schon wieder)

Dass zwei Minuten, bevor auch er den Block erreichte, Dani Carvajal die Spanier in Führung köpfte, wurde zur Nebensache – wie auch das 0:2 wenig später durch Vinicius Junior und die damit besiegelte Final-Niederlage. Ein zweites Mal flossen an diesem Tag Tränen – die Emotionen schwankten zwischen Stolz, überhaupt im Finale zu sein, und der Trauer, den Henkelpott nicht mit nach Dortmund zu holen. Noch eine Dreiviertelstunde nach Abpfiff saßen wir wortlos im immer leerer werdenden Wembley-Stadion. War dieser Tag wirklich so passiert?

Noch in der Nacht ging es um 2 Uhr mit Umstieg in Paris zurück in Richtung Heimat, diesmal – zu allem Hohn – ohne Verspätung. Und als ich am Sonntagabend um Mitternacht völlig erschöpft ins Bett fiel, wusste ich: Diese Gefühlsachterbahn werde ich, werden wir nie vergessen. Und bei der nächsten Finalteilnahme – vielleicht 2038 wieder in Wembley – wird die Flugangst überwunden.

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Wir hätten ja lieber ein anderes Logo in dieser Einblendung gesehen. Foto: Dezort